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Babette Loppacher
DER HEFT,
DER BUCH
Bericht aus einem bunten Schulhaus

Die Deutschlehrerin Frau Wyder arbeitet im buntesten Quartier Zürichs:
Ihr Bericht ist eine Liebeserklärung an den Reichtum, der sich ergibt
aus der Begegnung verschiedenster Kulturen, und an die spielerische
Phantasie, mit der die Jugendlichen sich im Leben zurecht finden.

Babette Loppacher hat aus ihrem Manuskript schon an mancher Veranstaltung vorgelesen und wurde gefragt, ob es nicht als Buch erhältlich sei. «Der Heft, der Buch» enthält im Anhang auch den Krimi «Kein Mord ist pervekt», den ihre SchülerInnen geschrieben haben.

Leseprobe:

Was ist ein Kawihl?

Die dreizehnjährigen Schülerinnen und Schüler sollen in einem Schachbrett voller Grossbuchstaben zwanzig Wörter suchen, lauter Dinge aus der Wohnung, Möbel und Haushaltsgegenstände. Waagerecht nebeneinander und senkrecht untereinander sind deutsche Buchstaben-Kombinationen zu finden, die Schüler lieben das über alles. Sie sollen die Wörter nicht nur anstreichen, sondern auch mit dem richtigen Artikel versehen ins Heft schreiben, und da haben sie bekanntlich die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: der Miete, die Wohnzimmer, das Couch...
  «Was ist Flur?» fragt Sadik.
  «Ein anderes Wort für Gang, hier in der Schweiz sagt man eher Gang. Findet ihr auch Korridor? Das sagt man in Deutschland auch... Ihr habt Glück: Alle drei sind männlich!» antwortet die Lehrerin.
  «Was ist ein Kawihl?» will Mehmet wissen. Er sitzt rechts aussen allein an seinem Tisch und ist heute sehr konzentriert bei der Sache. Wettbewerb, wer hat zuerst alle zwanzig Wörter gefunden - da ist er immer bei der Sache. Mehmet spricht so schnell Deutsch wie Türkisch, nur natürlich nicht so richtig, er ist noch nicht lange aus der Einschulungsklasse für anderssprachige Schülerinnen und Schüler in die reguläre Klasse übergetreten und will so rasch wie möglich das Deutschniveau der anderen erreichen.
  «Ein was?»
  «Ein Kawihl!»
  «Das gibt es nicht. Ein Kamin, meinst du vielleicht.»
  Mehmet steht auf und kommt mit seinem Buch zur Lehrerin. Er hat rot K-A-W-I-H-L angemalt, waagerecht. Er hat recht. Er ist entrüstet: «Sehen Sie hier! Das hat mein Lehrer in der Einschulungsklasse korrigiert, das ist richtig!» sagt er mit so viel Nachdruck, dass sich nicht mehr argumentieren lässt, zum Beispiel, dass er ja wissen müsste, was das ist, wenn er's doch schon einmal in der Schule gelernt hat.
  «Ach so, ja», meint Frau Wyder deshalb, «hast du im Wörterbuch nachgeschaut? Es gibt ja auch deutsche Wörter, die ich nicht kenne. Nein? Tja, wart' mal, dann suchen wir uns ein Ding, das so heissen könnte, hier, schau, das ist ein Kawihl!» Sie schaut sich theatralisch im Zimmer um und zeigt dann den goldenen Seestern, den sie als Brosche an ihrem Kostüm trägt.
  Es gibt so viele deutsche Wörter, die er noch nicht kennt, und das K, das W und das IH, das sind doch alles sehr deutsche Buchstabenkombinationen, es könnte wirklich ein Ding geben, das im Deutschen so genannt wird &endash; Mehmet begreift plötzlich, dass ihn die Lehrerin auf den Arm nimmt. Er grinst breit und schaut sie lange nachdenklich an.
  Frau Wyder schmunzelt über dieses kleine Erfolgserlebnis: Sie hat seine zornige Rechthaberei auflösen und in Lachen über sich selbst verwandeln können.

Taschenbuch 112 Seiten
ISBN 3-906566-20-X
CHF 20.- DEM 24.- OES 170.- EUR 12.50

last update 00|01|29